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​Das Taschenmonster ist dem Alltagshelden sein Feind

Kennen Sie den schon? Kommt ’ne alleinerziehende Mutter mit ihrem auspubertierten Sprößling zum Arzt und lässt ihr Kind auf Medientauglichkeit untersuchen. Verdacht auf frühe Digital-Display-Anomalie. Nach umfangreich abgeschlossenem Screening betritt der Arzt das Besprechungszimmer, legt der Mutter den Befund vor und sagt kurz und bündig: „Ihr Kind leidet am Pokémon-Syndrom. Früher eine seltene, heute eine weitverbreitete digitaltechnische Disposition unter Jugendlichen, die durchaus erbbedingt sein kann. Kann es sein, dass bei Ihnen daheim von Morgens bis Abends schon seit längerer Zeit der Lebensalltag durch zu viel Augmented Reality bestimmt wird? Und ich meine damit nicht nur die Proll-Sendungen auf RTL-TV?"

Tja – liebe Generation Golf – ihr habt euch im Unterschied zu euren Offsprings noch beim Lesen von Bret Easton Ellis Büchern und horxschen Zeitgeist-Magazinen Marke TEMPO im Übergang der 80er in die 90er des letzen Jahrhunderts, medienkritisch mit den Signalen zum Aufbruch in die sprichwörtlich schöne neue Welt des Digitalen Zeitalters auseinandergesetzt, während ihr auch schon auf dem Atari-Rechner Pac-Man oder auf dem Gameboy Pokémon (Taschenmonster) gespielt habt. Zuhause. Am Schreibtisch-PC. Auch in Verbindung mit dem TV-Gerät. In Spielhallen oder unterwegs mit dem Gameboy als Handheld-Device. Ihr dachtet allerdings, das wäre nur so etwas wie die moderne Form von Mensch-ärgere-Dich-nicht oder Halma. Und Datenschutzbeauftragt*innen mussten euch nicht mal warnen, wenn ihr digitaltechnisch gespielt habt. Weil das “böse“ Google noch gar nicht geboren war und Geo-Tagging-Daten allein der Regierung und dem Militär gehörten und für die Finger schnöder Zivilisten schlichtweg tabu waren. Und überhaupt – warum stehen die europäischen Karten- und Brettspieler so sehr auf japanisch kindliche Anime-Spielfiguren aller Art? Nur mal so nebenbei angemerkt.

Inzwischen hat sich viel getan und viel bewegt. Die nachgeborenen Kinder der Generation Golf laufen mit einem Coffe-to-go Becher inklusive ‚sip hole to insert a straw’ oder einem veganen Verbrechen an der Ernährungskultur in der einen Hand und dem Smart-Phone in der anderen durch die Gegend. Sie erleben die Welt als digitalisiertes Spiel. Blick immer nach unten beim Geradeauslaufen. Bong – Laternenpfahl – Beule. Scheiß Stadt.
Wir benötigen eine Bürgerinitiative, die für die Abschaffung von Straßenhindernissen im öffentlichen Raum auf die Straße geht. Das sagt die revolutionäre Jugend heutzutage und der Pokémon-Führer stimmt zu. Und die Stuttgarter Zeitung macht einen Pokémon-Event mit Gratis-Gifts zur Förderung der Spielteilnahme, um wenige Tage später ins Konzert der Kritiker gegenüber dem neuen Hype einzustimmen.

Die Forschung forscht erst noch nach neuen Medikamenten. Mit HDAS-Pillen war hier nichts zu machen. Und so konnte der Hausarzt der besorgten Alleinerzieher*in in Bezug auf ihr Kind nicht wirksam helfen. Sie suchte deshalb Rat beim Autor dieses Artikels. Der konnte er ihr in Sachen Sprößlingsrettung allerdings auch nicht wirklich weiterhelfen. Aber die Mutter konnte er als Mensch verstehen. Auch wegen der 1980er, 1990er Jahre – Frauenversteher. Sie verstehen.
Wie er das gemacht hat, warum die Frau nun zumindest weiß, was der Unterschied zwischen einer Augmented Reality und echter Erlebnisrealität ist und was nach den Gesprächen, so manchem Ach-Ja-Seuzer, dem Einkaufen von regionalen Erzeugnissen, gemeinsamen Kochen am heimischen Herd sowie bei leckerem Essen mit ein paar Gläsern Nicht-Trollinger-Rotwein sonst noch geschah, das wird niemals niemand googeln können, per App-Klick erfahren, als Facebook-Posting lesen und auch nicht von einem Pokémon erzählt bekommen können. Mandy-Vanessa – das bleibt unter uns. Ich schwör dir, deiner, mir, mich. Und das ist gut so. Denn der wahre Name des Geheimnisses ist, „das im Vertrauten liegende“.

Lernen wir also in den digitalisierten Bereichen unserer Welt möglichst schnell hinzu, was es zukünftig bedeuten wird, Aspekte des Ich mit dem Du und dem Wir zu teilen bzw. mit neuen Technologien und deren medialer Anwendung auf neuen Ebenen zu kommunizieren. Dies ist in vielerlei Hinsicht – nicht nur rein technologisch unter dem neumodisch plattitüdenhaft grassierenden Gesellschaftsbegriff mit dem Suffix 4.0 – schon seit längerem eine bildungspolitische Herausforderung, der zumindest in Deutschland parteiübergreifend zu wenig Aufmerksamkeit und zu wenig ernsthafte Zukunftsgestaltungskraft gegenübergebracht wurde und weiterhin wird.

So – und nun schalte ich den Computer ab, bereite mir einen handgemachten Filter-Kaffe aus frisch gemahlenen Bohnen ohne zusätzliche Geschmacksvarianten zu und lese genussvoll rauchend in meinem mangelhaft öko-bilanzierten Wohnzimmer in einem Buch. Bis ich auf dem Sofa einschlafe und vom ersten Vogelschrei in den neuen Tag geweckt werde.

0711 · EIN KESSEL BUNTES
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