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Mann, Heim ins Reich · Xavier Naidoo singt sich endgültig ins Abseits

Auszug aus der Erklärung Xavier Naidoos vom Morgen des 09. Mai 2017 auf Facebook bezüglich seines Songs „Marionetten“, nach dem Treffen mit dem Mannheimer Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz sowie anderen Vertretern der Stadt Mannheim:
„Ebenso wenig wie man einen Menschen in einem Satz erklären kann, kann man dies bei der Kunst. Wenn ich es ausnahmsweise nunmehr trotzdem versuche, ist es für mich gar nicht einmal so schwierig, da mir das Texten erfreulicherweise leicht fällt.
Ein Produzent, meistens zugleich ein Freund, spielt mir z.B. eine Komposition vor, bei welcher mir bereits nach ein paar Sekunden der Melodie die ersten Textfragmente in den Sinn kommen. Das bedeutet, mein Unterbewusstsein hat ganz sicher Einfluss auf die Entstehung der Songs. Selbstverständlich können und werden sicherlich Erfahrungen und Beobachtungen aus meinem erlebten Alltag in der Gesellschaft meiner Freunde, in der Gesellschaft in welcher wir leben sowie natürlich in meiner Familie – insbesondere meiner geliebten Frau und meinem Sohn – in diesen Schaffensprozess einfließen. In diesen Momenten verschwende ich keinen einzigen bewussten Gedanken darauf, wohin mich die Reise wohl führen mag.“

Aha – wer hätte das gedacht. Alltagserlebnisse, Erfahrungen in der Gesellschaft, das Zusammenleben mit Freunden und mit der Familie – all dies fließt in den Schaffensprozess ein. Textfragmente kommen Xavier Naidoo beim Hören einer Melodie schon nach ein paar Sekunden in den Sinn und sein Unterbewusstsein nimmt Einfluss auf die Entstehung von Songtexten. OK – das ist dann wohl die Inspiration durch den so genannten „Musenkuss“.
Ansonsten verschwendet er, laut eigener Aussage, keinen einzigen bewussten Gedanken darauf, wohin ihn die Reise wohl führen mag. Und genau so scheint es tatsächlich zu sein.

Auf der Reise ins Reichsbürgerland

Die unreflektierte Reise hat ihn diesmal zur Erschaffung von hate-speech, genauer - von musikalisch begleiteten hate-lyrics - geführt. Trotz aller durchaus wirksamen Emotions- und Inspirationsmomente im künstlerischen Schaffensprozess, ist es kaum vorstellbar, dass am Ende weder der Künstler Naidoo noch sein Management, das fertige Ergebnis – hier der Song „Marionetten“ – nicht begutachten und hinsichtlich einer Veröffentlichung bewerten. Dieser Song auf der neuen CD der Söhne Mannheims wurde nicht einfach nach Lust und Laune auf den Markt geworfen oder just for fun ins Netzt gestellt. Die Söhne Mannheims mit ihrem Front-Mann Xavier Naidoo sind keine „Kellerband“ im Pubertätsalter die davon träumt mit ein paar Loops & Lyrics auch mal auf YouTube berühmt zu werden.

Im Kämmerlein des Komponisten Naidoo mag seine Großhirnrinde ja noch vom Unterbewusstsein gekitzelt werden, in der Welt des Kommerz, auf dem Musik-Markt, kalkuliert der Künstler, der Produzent, das Management und der Tournee-Planer knallhart und mit vollem Bewusstsein. Die nachträglich publizierten Statements von und um Xavier Naidoo herum, nach dem Motto ‚Denn sie wussten nicht was sie tun’, können getrost als Mitleid heischender Katzenjammer verstanden werden.
Der Song „Marionetten“ ist kein poetischer Patzer, sondern nach meinem Verständnis eine kalkulierte Provokation. Dies ist keine Seltenheit im Kunst- und Kulturbetrieb. Das heißt allerdings nicht, dass sich ein Künstler durch die schlichte Berufung auf die Freiheit der Kunst, aus der Verantwortung für sein künstlerisches Ergebnis stehlen kann. Auch Xavier Naidoo ist verantwortlich für sein Werk und dessen Wirkungen.

Bewertung zentraler Text-Passagen

Bereits seit der letzten April-Woche 2017 wurde der Inhalt des Songs „Marionetten“ sowie die damit verbundenen Botschaften analysiert, bewertet und heftig kritisiert. Neben zahlreichen kritischen bis hin ablehnenden Stimmen – jüngst z.B. auch vom ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff im Interview mit dem Mannheimer Morgen - gab und gibt es auch weiterhin zahlreiche Unterstützer-Kommentare, Solidaritätsbekundungen und positive Bewertungen für den Song, für Xavier Naidoo und für die Söhne Mannheims. Führ mich irritierend dabei, dass sich z.B. auch Künstler wie Michael Mittermeier und Heinz Rudolf Kunze auf die Seite Xavier Naidoos schlagen bzw. ihn zumindest in Schutz zu nehmen versuchen.

In zahlreichen Veröffentlichungen des Song-Textes auf Internet-Portalen sind einige Zeilen falsch wiedergegeben. Nach meinen Recherchen sowie mehrmaligen Anhören des Songs „Marionetten“ habe ich den kompletten Song-Text mit eigenen Kommentaren zu diversen Passagen versehen und als PDF-Dokument am Ende des Artikels angefügt.
Hier geht es um jene Passagen des Songs „Marionetten“, die nach meiner Auffassung als gefährlich und bedrohlich einzustufen sind (zur Strophen-Einteilung siehe PDF-Dokument des kommentierten Song-Textes als Download).

Strophe IV
Aufgereiht zum Scheitern wie Perlen an einer Perlenkette.

Seid ihr nicht eine Matroschka weiter im Kampf um eure Ehrenrettung.

Ihr seid blind für Nylonfäden an euren Gliedmaßen.

Und hackt man euch im Bundestags-WC, twittert ihr eure Glied-Maße.

Alles nur peinlich, und sowas nennt sich dann Volksvertreter.

Teile eures Volkes nennen euch schon Hoch- beziehungsweise Volksverräter.

Alles wird vergeben, wenn ihr einsichtig seid.

Sonst sorgt der wütende Bauer mit der Forke dafür, dass ihr ein-sichtig seid.

Mit dem Zweiten sieht man (besser) ...

Strophe VI
Als Volks-in-die-Fresse-Treter, stoßt ihr an eure Grenzen.

Und etwas namens Pizza gibt's hier doch noch auf der Rechnung.
Und bei näherer Betrachtung steigert sich auch das Entsetzen.

Wenn ich so einen in die Finger krieg, dann reiß' ich ihn in Fetzen.

Und da hilft auch kein Versteck hinter Paragraphen und Gesetzen.



Zunächst ein Versuch von Wortspiel-Witz. In der Zeile 3, Strophe IV „Gliedmaßen“, am Ende von Zeile 4 „Glied-Maße“ als sexuelle Anspielung, die getwittert werden. Weil man auf dem „Bundestags-WC“ gehackt wurde.
In Strophe VI wird in Zeile 2 an etwas „namens Pizza“ referiert, das auch noch „auf der Rechnung“ stünde. Die stichwortartigen Anspielungen in diesen hier rot gekennzeichneten Text-Passagen sind auf den ersten Blick kaum verständlich und bedürfen der Entzifferung und Deutung.
Bei der ersten Passage – „Und hackt man euch auf dem Bundestags-WC...“ – kann vermutet werden, dass hier auf die Affäre des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy angespielt wird, der wegen Beschaffung und Besitz von jugend- und kinderpornografischem Material im März 2015 vor Gericht stand. Edathy soll sich Porno-Material mittels Nutzung eines Laptops bestellt haben, das zu seiner Büroausstattung im Bundestag gehörte. Das Gerichtsverfahren gegen Edathy wurde nach zwei Tagen gegen eine Geldauflage in Höhe von 5.000 Euro eingestellt. Inklusive zahlreicher Begleiterscheinungen auf politischer Ebene zog der Fall Eadthy seinerzeit große Kreise und entfachte hitzige Diskussionen über Pädophilie, sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen und führte letztendlich auch zu einer Verschärfung der Gesetzgebung gegen Kinderpornografie. Die ‚Volksseele’ kochte teilweise hoch und in Teilen sehr aufgebrachter Bevölkerungskreise wurde über so manche ‚schnellere Lösung’ in Sachen Strafverfolgung im Fall Edathy phantasiert – jenseits von Paragraphen und Gesetzen. Phantasien, die den Song-Texter Xavier Naidoo scheinbar bis heute, zu Strafandrohungen mit der „Forke“ inspirieren.

Zeile 2 in Strophe VI spielt höchstwahrscheinlich auf die, sich als verschwörungstheoretische Konstruktion und Falschmeldung (auf den Web-Diensten 4Chan und später dann auch auf Reddit im Netz verbreitet) erwiesene, Behauptung aus dem Jahr 2016 während des US-Wahlkampfes an, in der unterstellt wurde, dass im Keller einer Pizzeria in Washington D.C. ein Kinderpornoring agiere, in dessen angebliche Machenschaften auch Hillary Clinton verwickelt sei.
Obwohl längst klar ist, das es sich in diesem Fall, der oft auch als „Pizzagate“ benannt wird, um eine reine Erfindung und um verbreitete Fake-News handelt, scheint Xavier Naidoo weiterhin der Auffassung zu sein, das hier noch eine, wie auch immer geartete, "Rechnung" offen währe.
Beides – der konkrete Fall Edathy und der konstruierte Fall 'Pizzagate' – eint das Thema der strafbaren Handlungen unter den Stichworten sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen sowie Herstellung, Handel und Beschaffung von kinder- und jugendpornografischem Material.

Auge um Auge

Xavier Naidoo kommentiert diese zwei – zugegeben ziemlich versteckten – Anspielungen in den Strophen dann jeweils mit den Sätzen „Alles nur peinlich, und sowas nennt sich dann Volksvertreter.“ (Strophe IV) und „Und bei näherer Betrachtung steigert sich auch das Entsetzen.“ (Strophe VI).
Zwei Sätze, die für sich genommen unverfänglich sind, ja sogar als angemessene Kritik verstanden werden könnten. Wer wäre nicht entsetzt über sexuellen Missbrauch an Kindern- und Jugendlichen?

Doch in diesen zwei Strophen steht keine Zeile isoliert da, sondern den zwei Passagen mit den oben interpretierten Anspielungen (rot markiert), folgt dann jeweils (in blau markiert) ein Lösungsvorschlag beim Umgang mit derartigen Sexualstraftaten bzw. den daran beteiligten Personen – nämlich der unverholende Aufruf seitens Xavier Naidoos, physische Gewalt anzudrohen und letztendlich zur Selbstjustiz zu schreiten.

Mit hetzenden Begriffen aus der Zeit der NS-Diktatur wird dies eingeläutet. „Teile eures Volkes nennen euch schon Hoch- beziehungsweise Volksverräter.“ Xavier Naidoo bezeichnet selbstverständlich nicht selbst die Politiker oder gar bestimmte Personen als Hoch- oder Volksverräter, sondern formuliert die Aussage als eine Art zitierende Wiedergabe von Volkes Stimme. Mit geschicktem Kalkül nutzt er dabei die Form der indirekten Rede als Kunstgriff und zugleich dazu ein, sich vor möglichen juristischen Konsequenzen zu bewahren.

In der nächsten Zeile wird dann – gewissermaßen als letzte Chance - Vergebung angeboten, „Alles wird vergeben, wenn ihr einsichtig seid.“ - aber falls nicht, wird kurzerhand physische Gewalt angedroht: „Sonst sorgt der wütende Bauer mit der Forke dafür, dass ihr ein-sichtig seid. Mit dem Zweiten sieht man (besser)...“

Auch hier wieder ein Wortspiel. Es besteht in der Verwendung von „einsichtig“ und „ein-sichtig“. Wird vom Politiker als dem ausgemachten Hass-Objekt, dem so genannten „Puppenspieler“, als tituliertem „Volksverräter“ und als „Volks-in-die-Fresse-Treter“, Einsicht gezeigt, so kommt er noch mal mit einem blauen Auge davon. Andernfalls verliert er eines.

Wohl ebenfalls wort-witzig gemeint, wird der naidoo’sche Vorschlag zur Konfliktlösung mittels Mistgabel zum Auge-Ausstechen, durch die letzte Zeile in Strophe IV mit dem Zitat des offiziellen Werbe-Slogan des ZDF – „Mit dem Zweiten sieht man (besser)“.
Auch hier dürfte der Texter und Sänger Xavier Naidoo genau überlegt haben, was er tut. Im Song „Marionetten“ wird das Wort ‚besser’ akustisch unkenntlich gemacht, sodass man es nicht versteht. Man hört nur „Mit dem Zweiten sieht man“ (also nach dem Verlust eines Auges, mit dem dann noch verbliebenen) und danach ertönt ein knirschig-kratzendes Geräusch. Zusätzlicher Ärger mit der Rechtsabteilung des ZDF bleibt somit ebenfalls erspart.

Am Ende der Strophe VI ertönt dann der Ruf, Selbstjustiz zu üben, noch deutlicher. „Paragraphen und Gesetze“ – rechtsstaatliche Grundsätze – werden lediglich als ein Versteck aufgefasst, das letztendlich nicht hilfreich ist, um dem Würgegriff von Xavier Naidoo zu entkommen. Ja – ihm, denn hier schreibt und singt er im Unterschied zu nahezu allen anderen Strophen und Zeilen explizit in der Ich-Form. „Wenn ich so einen in die Finger krieg, dann reiß' ich ihn in Fetzen.“


Abschlussbemerkung

Kaum überhörbar gibt Xavier Naidoo im Song „Marionetten“ deutliche Handlungsanweisen zur Konfliktlösung durch die Androhung und Anwendung physischer Gewalt, knapp am Aufruf oder an der Anstiftung zur Gewaltausübung im Sinne des Strafgesetzbuches vorbei. Dies mildert den aufhetzenden und Hass schürenden Charakter seiner konkret geäußerten Sätze jedoch nicht ab.

Auf der politischen Ebene, seitens der Stadt und des Oberbürgermeisters Dr. Peter Kurz, hätte es klarerer Worte der Abgrenzung zu Geist und Inhalt des Songs bedurft und es wäre auch in Sachen zukünftiger Zusammenarbeit zwischen der Stadt Mannheim und Xavier Naidoo zumindest, ein klarer Cut erwartbar gewesen.
Der Freiraum der Kunst wurde von Xavier Naidoo überdehnt und ist als Schutzraum für ihn als Künstler nun zerplatzt.
Zu vage sind die bisherigen Statements der Stadt, zu wenig Distanzierung ist erkennbar. Und zu viel Verwunderung bleibt übrig, über einem SPD-Bürgermeister, dessen Partei auf Bundesebene seit geraumer Zeit eine klare Kampagne gegen rechtsradikale Tendenzen im Land führt.
Sicher, es geht um Schadensbegrenzung und um Schadensabwehr – auch im kommerziellen Bereich der sozio-kulturellen Zusammenarbeit zwischen der Stadt und ihren Stadtmusikanten. Nur - welcher Schaden ist größer?
Eine brauner Makel, der an Mannheim kleben bleiben wird und Ruf schädigend lange nachwirken könnte oder kurzfristige finanzielle Einbußen im Mannheimer Kulturbetrieb infolge Beschränkung oder gänzlicher Beendigung der Zusammenarbeit mit Xavier Naidoo und ggf. auch den Söhnen Mannheims?

Radio-Sender, Konzert-Veranstalter und andere Institutionen im Musikgeschäft haben bereits klare Haltung gezeigt, spielen den Song nicht, haben die Zusammenarbeit mit Xavier Naidoo ausgesetzt oder beendet.
Wann setzt der Mannheimer OB ein klares Zeichen gegen Reichsbürger-Geist und rechtsstaatfeindliche Gesinnung?

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